Krise als Chance für Transformation
Die Corona-Pandemie hat den Kulturbetrieb in Deutschland stark getroffen. Obwohl die Einrichtungen längst wieder geöffnet haben, fehlt das Publikum. Theater- und Opernhäuser haben einen erheblichen Teil ihrer Abonnent*innen verloren. In Museen und Clubs kehren die Besucher*innen nur zögerlich zurück. Auch bei Lesungen bleiben viele Stühle leer. Die Verlage, gerade die kleinen Independent-Verleger*innen, kämpfen um Buchverkäufe und ums Überleben. Auch Bibliotheken, die am stärksten genutzten außerschulischen Kultur- und Bildungseinrichtungen in Deutschland, machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Während der Corona-Pandemie haben sie insbesondere Kinder als Nutzer*innen verloren. Diese konnten die Einrichtung nicht kennenlernen. Leseförderangebote wie Veranstaltungen und Kooperationen mit Schulen und Kitas fielen aus.
In dieser herausfordernden Situation sorgen sich die Kultureinrichtungen zudem, dass sie schließen müssen, weil sie die aufgrund von Putins Krieg in der Ukraine explodierenden Energiekosten nicht tragen können. Bei fehlenden Besucher*innen wäre dieser Schritt nachvollziehbar, denn ganz Deutschland muss Energie und Gas sparen, damit es am Ende für alle reicht. Kulturstaatsministerin Claudia Roth möchte verhindern, dass Kultureinrichtungen schließen müssen, weil “Museen, Theater, Kinos auch Räume sind, die Menschen Bildung, Kommunikation und soziale Wärme ermöglichen“. Kultureinrichtungen sollen daher ab Januar 2023 mit dem „Kulturfonds Energie“ mit mehr als einer Milliarde Euro entlastet werden – im Gegenzug sollen die Veranstalter*innen von kulturellen Events Energie einsparen.
In dieser Fördermilliarde liegt die (verpasste?) Chance, staatliche geförderte Kultureinrichtungen zu transformieren und sie in die sozialen Räume zu verwandeln, die wir in dieser Krise brauchen. Kulturbetriebe sollten sich nicht nur die Frage stellen, wo sie Energie einsparen können, sondern selbstkritisch hinterfragen, warum sie in der Krise weiterhin geöffnet bleiben sollen, während andere Einrichtungen vielleicht schließen müssen (etwa das städtische Hallenbad, in dem bereits in den vergangenen Jahren viele Kinder aufgrund von Corona nicht schwimmen lernen konnten).
Eine Frage der Haltung
Es ist viel die Rede davon, dass sich Kultureinrichtungen in sogenannte “Dritte Orte” verwandeln sollen. Diese bieten die Möglichkeit, mit Bildung, Kunst und Kultur, aber auch mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Der Begriff „Dritter Ort“ stammt von dem Stadtsoziologen Ray Oldenburg. Er beschrieb damit die sozialen Treffpunkte (zwischen dem Zuhause, einem ersten Ort und dem Arbeitsplatz, dem zweiten Ort), die für den sozialen Zusammenhalt eines Viertels sorgen.
Ein herausragender Dritter Ort ist sicherlich das 2019 eingeweihte 280-Millionen-Euro-Bauprojekt Dokk1 in Aarhus. Es ist Bibliothek, Bürgerzentrum und Café im Herzen der Stadt. Die Besucher*innen finden dort zahlreiche Sofas und Sessel mit Blick aufs Wasser zum Lesen oder Musik hören. Außerdem Schreibtische zum Arbeiten, mehrere Indoor- wie Outdoor-Spielplätze, Spielkonsolen, eine Kreativwerkstatt, einen Turnraum für Kleinkinder und eine Küche, in der mitgebrachtes Essen zubereitet werden kann. Dokk1 will mehr sein als einfach eine Bücherei und ein Bürgerzentrum, nämlich ein Ort des Austauschs und ein multikultureller Treffpunkt.
Eine solche Ausstattung und Lage sind beeindruckend. Um Kulturorte in Dritte Orte zu verwandeln, kommt es jedoch eher auf die Haltung an. Wen laden wir zu uns ein? Wie erleichtern wir unseren Besucher*innen den Zugang? Braucht es Übersetzungen auf Ukrainisch, Russisch, in leichte Sprache, andere Öffnungszeiten, freien Eintritt, mobile aufsuchende Teams?
Welche Angebote und Kooperationen braucht es jetzt?
Um auf die Hallenbäder zurückzukommen. Alarmierend ist nicht nur, dass laut der Deutschen-Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) quasi zwei Schuljahrgänge aufgrund von Corona nicht schwimmen gelernt haben. Ebenso dramatisch ist die Situation im Bereich Lesen, Schreiben und Rechnen. Bundesweit erreichen laut IQB-Bildungstrend 2021 22 Prozent der Viertklässler die Mindeststandards in Mathe nicht. Im Bereich Lesen sind es 19 Prozent. Es handelt sich um einen bundesweiten Abwärtstrend, der bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien und Kindern mit Zuwanderungshintergrund besonders groß ist.
Angesichts dieser erschreckenden Zahlen sollten sich Kultureinrichtungen wie Theater, Museen und Bibliotheken fragen, wie sie den Schulen beiseite stehen können. Welche neuen Kooperationen und Angebote wären umsetzbar und welche sollten weiter ausgebaut werden? Ich würde mir wünschen, dass die vom Deutschen Kulturrat aus dem Energiefonds geforderten 800 Mio. Euro nicht einfach nur als Wirtschaftlichkeitshilfe und Ausfallhilfe eingesetzt werden. Damit sollten gezielt kulturelle Bildungsangebote gefördert werden, die genau diese Kinder unterstützen und einbinden.
Was kann die Kultur für die Gesellschaft tun?
Kultur ist auch immer Teil eines gemeinschaftlichen Erlebnisses. Wer kennt nicht den Bilderbuch-Klassiker „Frederik“ von Leo Lionni? Während die anderen Mäuse Vorräte für den Winter sammeln, sammelt Frederick lieber Wörter, Farben und Sonnenstrahlen. Als alle Vorräte aufgefuttert sind, wärmt und erfreut Frederick die anderen mit seiner Kunst. In diesem Sinne sollte sich jede Institution, die Fördergelder aus dem „Kulturfonds Energie“ erhält, überlegen, wie sie diese Zuwendung an die Gesellschaft zurückgeben kann.
Wir können Armut und Ungerechtigkeit als Themen in die Kultur bringen, etwa in Form einer Ausstellung. Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe läuft noch bis Februar 2023 die Ausstellung „Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt„, die Lösungsansätze für Wohnungslosigkeit liefert. Das Museum stellt nicht nur Lösungen vor, sondern setzt sich auch dafür ein, dass der Vorplatz des Museums zu einem würdigen Aufenthaltsort für Obdachlose und Drogenkonsumentinnen umgestaltet wird.
Statt nur Fragen zu stellen, können wir also auch versuchen, Antworten zu finden. Wie können wir in diesen Zeiten Zuversicht schenken, welches Problem können wir lösen? Der thailändische Künstler Rirkrit Tiravanija wurde in den 1990er Jahren damit berühmt, dass er im Ausstellungsraum Curry kochte und an die Besucher*innen verteilte. Er zielte darauf ab, aus passiven Zuschauenden aktive Teilnehmende zu machen und die Trennlinie zwischen Kunst und Leben zu verwischen. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, das Leben in die Kunst zurückzuholen?
Finden wir kreative Antworten!
Uns steht ein Winter bevor, in dem Menschen frieren werden, weil sie sich die gestiegenen Energiekosten nicht mehr leisten können. Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland und konkurrieren mit den Menschen vor Ort um viel zu knappen Wohnraum. Die Inflation ist so hoch, dass die meisten Tafeln keine neuen Kund*innen mehr annehmen, weil die Nachfrage größer ist als das Angebot. Trauen wir uns, unsere Kulturinstitutionen zu öffnen und mit allen zu teilen. Laden wir die Tafeln direkt zu uns ein und bitten wir unsere Besucher*innen um Sachspenden. Geben wir Flüchtlingen aus der Ukraine und anderen Ländern die Möglichkeit, mitzugestalten. Stellen wir Sofas und Sessel in Museen, bieten wir „soziale“ und auch ganz reale Wärme.
Kultur ist die „Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung“ – so lautet die Definition von Kultur von Oxford Languages. Wer also, wenn nicht die Kultureinrichtungen sollten kreative Antworten auf die aktuellen Herausforderungen – Krieg, Energiekrise, Inflation, Wohnungsnot, Bildungsmisere – finden? Wir sollten uns nicht damit begnügen, nach Krisenfonds zu rufen – ja, diese sind wichtig! – sondern den Blick noch intensiver darauf richten, was wir tun können, um einen Unterschied zu machen.
Die Positionierung „Die Energiekrise ist auch eine Kulturkrise“ des Präsidenten der Kulturpolitischen Gesellschaft enthält viele gute Vorschläge, was jetzt zu tun ist. Legen wir also los!
Bildausschnitt: Still Life with Flowers and Fruit, Henri Fantin-Latour, 1866, The Metropolitan Museum of Art, Public domain